ZUM GERTRÜDCHEN KOMMEN SIE ALLE
In Neuenrade liegt der Höhepunkt des Veranstaltungskalenders bereits im März. Doch auch in den restlichen Monaten hat die Hönnestadt einiges zu bieten.
Schon Graf Engelbert III. erkannte seinerzeit, dass die Stadt an der Hönnequelle eine besondere Position in der Region einnimmt. In der Abgrenzung zum Kurkölnischen galt sie als strategisch wichtiger Punkt, sodass der Aufbau von Grenzfesten erforderlich war. Heute ist Abgrenzung in Neuenrade jedoch kein Thema mehr: Man gibt sich als weltoffene Kleinstadt mit 12.000 Einwohnern und breit aufgestellten Industrie- und Gewerbebetrieben.
Zwar hat der demografische Wandel auch in Neuenrade seine Spuren hinterlassen, jedoch fällt der Bevölkerungsrückgang mit 4,5 Prozent in den letzten zehn Jahren eher mild aus. Und mit einer Arbeitslosenquote von nur 4,6 Prozent darf sich die Hönnestadt durchaus als wirtschaftsstark bezeichnen. Viele traditionsreiche Familienunternehmen sorgen für ein stabiles Grundgerüst, darüber hinaus wurden in den östlich gelegenen Gewerbegebieten in den letzten Jahren einige mittelständische Unternehmen gegründet und immer weiter ausgebaut.
„Das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt wird geprägt durch kleine und mittelständische Unternehmen, die fast ausschließlich eigentümergeführt sind und sich relativ häufig schon in der zweiten und dritten Generation befinden. Dies führt zu einer besonderen Bindung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, erklärt Christiane Frauendorf, Geschäftsführerin des Stadtmarketing Neuenrade e. V. Besonders stolz ist die Stadt auf ihre Weltmarktführer, die sich aus unterschiedlichsten Branchen rekrutieren. Traditionell stark sind neben Automobilzulieferern sowie Maschinen- und Anlagenbauern vor allem das produzierende Gewerbe, Dienstleister sowie Handel und Logistik. Aufgrund der familiengeführten Unternehmen wird laut Christiane Frauendorf hauptsächlich langfristig und im Sinne der kommenden Generationen geplant. „Das ist mit Sicherheit ein Grund dafür, dass die Unternehmen erfolgreich sind.“ Auch die gute und unkomplizierte Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung kommt der heimischen Industrie zugute – kurze Wege und das persönliche Gespräch sind hier im Sinne aller Beteiligten.
Turm + Hügel = Motte
Seit den Gebietsentwicklungsreformen in den Jahren 1969 und 1975 gehören die Ortsteile Küntrop, Affeln, Altenaffeln und Blintrop zu Neuenrade. Sie gaben der Stadt seinerzeit die Eigenberechtigung, weiter zu bestehen. Heute sind die Ortsteile laut Bürgermeister Antonius Wiesemann wichtiger denn je: „Die Dörfer sind ein Vorbild an Zusammenhalt und Gemeinschaft.“ Außerdem befinden sich einige Sehenswürdigkeiten außerhalb der Kernstadt, etwa der Klappaltar in Affeln, die kleinen Kapellen in Altenaffeln und Blintrop sowie die Turmhügelburg in Küntrop, die jeder nur „die Motte“ nennt.
Die Anlage ist mit ihren stattlichen 22 Metern Höhe schon von Weitem sichtbar. Im 11. bis 12. Jahrhundert entstanden die hölzernen Konstruktionen, die auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln erbaut wurden, in ganz Mitteleuropa – Angehörige des niederen Adels errichteten sie ebenso wie reiche Feudalherren.
Original erhalten ist die Küntroper Motte freilich nicht: Sie wurde für eine Ausstellung des LWL-Museums für Archäologie in Herne rekonstruiert und anschließend dank des Engagements einiger historisch interessierter Neuenrader Bürger in Küntrop wieder aufgebaut. Heute steht sie nur wenige Hundert Meter entfernt vom ehemaligen Standort einer echten Motte: der historischen Burg Gevern der Grafen von Arnsberg, deren Turm 1355 durch Graf Engelbert III. von der Mark zerstört wurde. Zwischen Ostern und Oktober können Besucher jeden Sonntag zwischen 12 und 14 Uhr den Ausblick aus der Turmhügelburg genießen, Trauungen sind ebenfalls möglich.
Ein Stück Heimat
Was die Stadtentwicklung angeht, steht der Neuenrader Bürgermeister Antonius Wiesemann vor ähnlichen Herausforderungen wie die meisten seiner Amtskollegen in der Region: Üppige Ausgaben und ambitionierte Großprojekte sind zurzeit einfach nicht drin. „Aber die wichtigen Punkte werden nicht aus den Augen verloren“, verspricht er. „Von einem ansprechenden, bezahlbaren Kulturprogramm über verschiedene Kindergärten und Schulformen bis hin zu Freizeitangeboten ist vieles vorhanden. Die Vereinslandschaft von Sport- bis hin zu Schützen- und Musikvereinen ist ebenfalls intakt. Ein neues Stadtzentrum mit Karussell und verschiedenen Cafés lädt ein.“
Antonius Wiesemann hofft, dass sich die Einzelhandelssituation in den nächsten Jahren weiter stabilisieren kann. Der örtliche Stadtmarketing-Verein legt sich bereits kräftig ins Zeug, um die Struktur vor Ort zu verbessern. Erklärtes Ziel ist es, die Stadt für junge Menschen und Familien attraktiver zu machen. „Für die Menschen, die unsere Zukunft in der Hand haben“, betont der Bürgermeister. Ein neu gegründetes Jugendforum soll dabei helfen, die jungen Neuenrader an ihre Stadt zu binden. „Menschen, die sich positiv an ihre Jugend erinnern, kehren eher zu ihren Wurzeln zurück“, glaubt Antonius Wiesemann. „Damit muss eine Stadt punkten, um auch dem Fachkräftemangel vorzubeugen. Eine Stadt sollte ein Stück Heimat sein.“
Winzerfreuden am Berentroper Berg
Seit 2011 hat Neuenrade ein echtes Alleinstellungsmerkmal zu bieten: einen kleinen, aber feinen Weinberg. 13 Weinfreunde aus dem Ort pflanzen dort zwei Sorten von pilzresistenten Reben an: die weiße Traube Solaris und als rotes Pendant die Sorte Regent. Auf knapp 1.000 Quadratmetern an einem Südhang über dem Ort kultivierten die Winzer in den Jahren 2011 und 2012 die Reben, die sich seitdem recht gut entwickeln. Regelmäßig werden sie geschnitten und geheftet – ganz wie im „richtigen“ Weinberg.
Optimale klimatische Bedingungen finden die Reben, die in der Nachbarschaft eines alten Prämanstenenser-Klosters wachsen, im Sauerland freilich nicht vor. Es geht den Winzern aber auch weniger um Ertrag und Geschäft, sondern in erster Linie um den Spaß an der Sache. „Der Ertrag, wenn es dann einmal so weit ist, wird sich in Grenzen halten und nur für Freunde und Bekannte reichen“, meint Antonius Wiesemann, der ebenfalls zum Kreis der Hobbywinzer gehört. Besichtigt werden kann der kleine Weinberg am Berentroper Berg das ganze Jahr – bei klarem Wetter bietet der Standort einen schönen Blick über die Stadt.
Darauf einen Buba Bitter
Gefeiert wird in Neuenrade übrigens genauso gerne wie überall sonst im Sauerland. Allerdings markiert in der Hönnestadt nicht – wie in den meisten anderen Städten und Dörfern der Region – das örtliche Schützenfest den Höhepunkt im Veranstaltungskalender, sondern der Gertrudenmarkt, der von den Neuenradern sowie von vielen Auswärtigen liebevoll „Gertrüdchen“ genannt wird. Ein echtes Traditionsfest, das über viele Jahre gewachsen ist. „Im Jahre 1355 gewährte Graf Engelbert III. von der Mark Neuenrade die Stadtrechte und somit die Erlaubnis, im Jahr drei Märkte abzuhalten. Einer davon war der Gertrudismarkt im März“, schildert Sabine Rogoli, die das Fest seit vielen Jahren mit organisiert, die Hintergründe.
Früher reisten die Pferdehändler schon am Freitag, dem sogenannten „Heiligabend“, vor dem eigentlichen Markttag an, belebten Neuenrade und stiegen in den Gasthöfen ab. So entstand auch das traditionelle Gertrudenessen: Sauerkraut mit weißen Bohnen, Mettwurst und Speck – denn das hatten die Leute nach einem langen Winter im Keller. Dieses Gericht gibt es um Gertrüdchen auch heute noch in allen Neuenrader Gaststätten. Reisende tranken außerdem eine „Gertrudenminne“ als Schutz für die Reise oder für Zerstrittene zur Versöhnung – sie fungierte sozusagen als Allheilmittel.
Das Gertrüdchen war der erste Pferdemarkt im Jahr und eine gute Gelegenheit für Bauern, Tiere für die Bestellung ihrer Felder zu erwerben. Darüber hinaus boten Markthändler ihre Waren an und Belustigungen wurden veranstaltet. So entwickelte sich die Kirmes.
„Für alle Neuenrader ist dieses Fest ein fester Termin im Kalender. Viele Einheimische, die verzogen sind, kommen aus diesem Anlass zurück nach Neuenrade und treffen dort alte Bekannte“, weiß Sabine Rogoli. „Die Neuenrader lieben ihr Gertrüdchen und versuchen, an diesem Datum vor Ort zu sein. Sie trotzen Wind und Wetter, Kälte und Sturm, trinken und feiern gerne jedes Jahr wieder mit ihren Freunden, Verwandten und Bekannten.“ Für den Veranstalter ist die Organisation des Gertrudenmarktes in jedem Jahr eine neue Herausforderung. Schließlich möchte das Team den Besuchern immer wieder ein frisches und attraktives Angebot unterbreiten. „Aufgrund der Besonderheit des Veranstaltungsplatzes – geringe Größe und wenige Zufahrtsmöglichkeiten – ist es schwierig, bestimmte Fahrgeschäfte und Marktstände unterzubringen“, schildert Sabine Rogoli die Situation.
Der Pferdemarkt im Garten der Villa am Wall ist bis heute ein fester Bestandteil des Volksfestes, die Tendenz war zuletzt allerdings rückläufig: Etwa ein Dutzend Pferde stand noch zum Verkauf. Die teilweise empfindliche Kälte und der umständliche Transport zum Markt führten dazu, dass sich einige Aussteller zurückzogen. Das Organisationsteam bemüht sich jedoch nach Kräften, die bestehenden Händler zu halten und in Zukunft eventuell auch wieder mehr Pferde anbieten zu können.
Der Fortbestand einer weiteren Gertrüdchen-Tradition dürfte hingegen kaum gefährdet sein: Der legendäre Buba Bitter, ein Kräuterlikor, dessen Rezeptur auf die Apothekerfamilie Buntenbach zurückgeht und bis heute geheim gehalten wird, findet jedes Jahr aufs Neue reißenden Absatz. „Der Schnaps hat schon vielen Besuchern des Gertrüdchens seine Wirkung auch noch am nächsten Tag gezeigt“, schmunzelt Sabine Rogoli. „Er hat sich entwickelt aus der sogenannten Gertrudenminne, die Schutz für Leib und Seele bieten sollte, und wird aus heimischen Kräutern gebrannt.“ Tatsächlich wurde ein Gertrudenschnaps bereits vom Provisor Franz Vigelius als Nachfolger des Apothekers Hempel seit 1782 hergestellt. Diese Tradition wurde fortgesetzt durch die Familie Buntenbach, der das Getränk seinen Namen verdankt. Da es ursprünglich in einer Apotheke hergestellt wurde, ist es natürlich reine Medizin – auch wenn der Schnaps inzwischen in einer Brennerei fabriziert wird. „Es gibt ihn nur anlässlich des Gertrüdchens, das Rezept ist geheim und er hilft gegen alles“, weiß Sabine Rogoli. „Bereits der würzige, leicht süßliche Geschmack lässt den gesunden Charakter erahnen. Und das Motto ‚Viel hilft viel‘ wird von den Besuchern des Gertrüdchens immer wieder gerne beherzigt.“
Am Freitag vor dem Fest treffen sich, wie früher die Pferdehändler und Marktleute, nun die Neuenrader und auch viele Fremde in der Gertrudenpassage, um den neuen Buba-Bitter zu verkosten und zu feiern. Die offizielle Eröffnung des Festes erfolgt durch Bürgermeister Antonius Wiesemann im Kleinen Sitzungssaal des Rathauses und ist verbunden mit dem traditionellen Peitschenknall und der Verlesung der Marktprivilegien durch die „Stadtsoldaten“ auf dem Rathausbalkon. Dass der Wettergott der Veranstaltung nicht immer gut gesonnen ist und der Begriff „Gertrudenwetter“ landläufig mit Regen, Sturm und sogar Schnee assoziiert wird, hält übrigens niemanden vom Feiern ab – ihr Gertrüdchen lassen sich die Neuenrader nicht nehmen.