Der Atem
Freund und Garant eines gesunden Lebens
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Er begleitet uns das ganze Leben. Ohne ihn ist Leben undenkbar. Er ist unspektakulär und unnachgiebig.
Er braucht mehr Aufmerksamkeit, als wir ihm im Alltag zugestehen. In allen Sprachen der Welt finden sich Worte für ihn. Gedichte, Lieder beschreiben ihn, ganze Bücher haben ihn zum Inhalt. In ganzheitlichen Methoden für eine psychophysische Gesundheit wie zum Beispiel Yoga, Qi Gong, Taiji Quan oder auch der modernen „Mindfulness-Based-Stress-Reduction“ sowie in der Körperpsychotherapie nimmt er einen nicht unbedeutenden Platz ein: der Atem.
Wann immer über gesunde Lebensweise geschrieben, gesprochen oder referiert wird, finden sich meist folgende Anleitungen und Ratschläge dafür: eine ausgewogene, vollwertige Ernährung, reich an Vitalstoffen, Vitaminen und
Mineralien mit möglichst geringem Fleischanteil oder völlig fleischlos – und dies alles aus biologischem Anbau. Des Weiteren wird auf genügend Bewegung hingewiesen, sei es sportlicher Natur, In- wie Outdoor, vom Wandern, Laufen über Radfahren und Schwimmen. Als dritten Aspekt für gesunde Lebensweise werden gerne stressabbauende Methoden und Wege vorgeschlagen. Also beispielsweise Yoga, Taiji Quan, Qi Gong, Wandern in der Natur oder der Besuch von Thermalbädern mit Saunen, die zu einer mentalen und körperlichen Ausgeglichenheit beitragen.
Und natürlich wird auf einen disziplinierten Umgang mit Genussmitteln hinge-
wiesen bis hin zu einer völligen Meidung wie Rauchen, Alkohol oder zuckerreichen Schleckereien. Dies alles findet sich dann unweigerlich auf der „Should-Do“-Liste zum Jahresanfang oder, nach einer zivi-
lisationsbedingten Krankheit, in den ärztlichen Ratschlägen oder Mahnungen
wieder, deren Umsetzung sich als sehr anstrengend erweist, da liebgewonnene Gewohnheiten mit Lustgewinn einhergehen und meist nicht so einfach aufzugeben sind.
Was selten – und wenn, dann beiläufig – erwähnt wird, ist der bewusste Umgang mit dem eigenen Atem respektive dem
Atmen. Egal, ob aus medizinischer, physiologischer, psychologischer, präventiver oder ganzheitlicher Sicht. Und dass der bewusste Umgang mit dem Atmen sowie die Achtsamkeit auf den eigenen Atem einen ganz entscheidenden und nachhaltigen Einfluss auf die Gesundheit mit sich bringen.
„Wenn Sie lange leben wollen, atmen Sie tief und selten“ Tibetanischer Mönch
Zunächst lässt sich sagen, dass das Atmen vom vegetativen, somatischen, peripheren und zentralen Nervensystem gesteuert wird. Die Atmung existiert bewusst oder unbewusst, im Wach- wie im Schlafzustand. So wird das Atmen automatisch gesteuert, der Mensch kann aber auch ganz bewusst den Atem beeinflussen und selbst entscheiden, schnell oder langsam, tief oder flach zu atmen. Dabei lässt sich grundsätzlich die Unterscheidung zwischen einem äußeren und einem inneren Atem treffen.
Zum äußeren Atem: Jedes Lebewesen dieser Erde atmet. Sein Atemfluss zeigt an, dass es lebt. Der Atem ist ein pulsierender Vorgang. Er sorgt dafür, dass der Brustkorb und in abgeschwächter Form der Bauchraum sich beim Einatmen weiten und beim Ausatmen wieder entspannen. Auf diese Weise findet ein lebenswichtiger Energieaustausch zwischen der Außenwelt und der Innenwelt unseres Körpers statt. Ein neugeborenes Kind atmet etwa 35- bis 50-mal in der Minute, ein Erwachsener im Durchschnitt 16-mal. Das sind im Jahr ungefähr 8,4 Millionen Atemzüge als pulsierendes Ein- und Ausatmen. All dies führt zur Versorgung mit lebenswichtigem Sauerstoff und der Abgabe von Stickstoff. Diese physiologischen Wirkungen sind für das körperliche und seelische Wohlbefinden von gewichtiger Bedeutung.
Die Lungen, die den größten Teil unseres Brustkorbes ausfüllen, nehmen die Atemluft auf und geben diese wieder ab. Dies findet im Idealzustand durch das Zusammenwirken der Schultermuskulatur, des Zwerchfellmuskels, der Zwischenrippenmuskulatur, der Rückenmuskulatur und der Beckenbodenmuskulatur statt. Die Steuerung unserer Atmung obliegt wiederum dem Atemzentrum, das im verlängerten Rückenmark und im Hirnstamm zu Hause ist und sich in einem sehr frühen Stadium der Evolution herausgebildet hat. Dieses Atemzentrum garantiert, dass die verantwortlichen Muskeln selbst unter extremen körperlichen und seelischen Belastungen sowie im Schlaf und sogar unter Narkose die für die Atmung notwendigen Bewegungen ausführen, so dass die zum Überleben erforderliche Sauerstoffzufuhr niemals zum Erliegen kommt. Wichtig ist außerdem, dass äußere Reize wie zum Beispiel Kälte oder Wärme und körperliche Schmerzen, aber auch starke Gefühle wie Ängste oder Wut und körperliche Anstrengungen die Atmung hemmen oder anregen, ja verstärken können.
„Du musst nicht immer einen Plan haben.
Manchmal musst Du nur atmen, vertrauen,
loslassen und schauen, was passiert.“
Die eigentliche Atmung findet allerdings nicht in der Lunge statt, sondern in den Zellen, wohin der Sauerstoff durch das Blut transportiert wird. Er sorgt in einem verbrennungsähnlichen Prozess dafür, dass die Energie der Nährstoffe, ebenfalls durch das Blut herbeigeschafft, freigesetzt wird. In diesem Prozess entstehen Abfallstoffe, auch Schlacken genannt. Je gesünder und damit wirksamer die Atmung ist, desto vollständiger ist die Verbrennung, desto weniger Abfallstoffe fallen an, umso leichter können diese abtransportiert und ausgeschieden werden. Je wirksamer also das Atmen, desto frischer und gesünder bleiben die Zellen des Körpers. Untersuchungen haben ergeben, dass drei Prozent der anfallenden Schlackstoffe mit der Verdauung ausscheiden, sieben Prozent mit dem Harn, 20 Prozent über die Haut und 70 Prozent durch den Atem. Es gibt eine Vielzahl von Behandlungen, die gezielt eine Stoffwechsel-Optimierung fördern. Was im Allgemeinen aber übersehen wird, sind die heilsamen Wirkungen, die eine mit Bewusstsein verbundene Atmung bewirken kann.
Mehr Körperbewusstsein und Achtsamkeit durch gesundes Atmen
Der innere Atem umfasst die geistig-seelische Dimension des Atems. Diese spiegelt sich im Zustand des mentalen, emotionalen und spirituellen Körpers des Menschen wider. Lebendigkeit und Gelassenheit, ein in sich Ruhen und der eigenverantwortliche Umgang mit sich selbst sind hier einige der Zielgebungen. Aber auch ein inneres Reinigen. Unsere Vorfahren wussten um dieses Reinigen, denn das bedeutete, ins Hier und Jetzt zu gelangen. Sie wussten, dass es nicht nur einen physischen Stoffwechsel gibt, sondern auch einen mentalen und emotionalen, was wir heute Psyche nennen. Mit der Zeit entstanden ganze Lebensdisziplinen wie der Yoga, das Taiji Quan, Qi Gong, Lu Jong, klösterliche Exerzitien und vieles mehr. Bei all diesen Disziplinen spielen der Atem und gesundes Atmen eine tragende Rolle. Gesundes und wirkungsvolles Atmen braucht Raum, der nicht so ohne weiteres wahrgenommen wird. Beim Menschen ist es der Körperraum. Ein chronisch angespannter und verspannter Körper bietet dem Atem wenig Möglichkeiten, sich zu entfalten. Der Grad der Anspannung und Entspannung bestimmt die Größe des Atemraumes. So beinhalten die bereits genannten Lebensdisziplinen allesamt auch Übungen zur Entspannung des Körpers.
Gleichzeitig findet auch eine Korrektur der Körperhaltung statt. Je mehr Atem den Körper durchströmt, umso mehr wachsen das Körperbewusstsein sowie die Achtsamkeit. Damit verbunden reagiert der Mensch schneller auf für ihn ungesunde Entwicklungen. Im Erkennen der ganzheitlichen Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit spricht man heute sowohl in der Medizin als auch in der Psychologie von Psychosomatik.
Mit Hilfe des Atems lassen sich tiefere Schichten der Psyche und des Körpers erreichen und bearbeiten, als dies durch Analyse oder Gespräche möglich ist. Aber auch wer sich stressbedingt Atem-, Verspannungs- oder Haltungsproblemen ausgesetzt fühlt – verbunden mit Unruhe oder Ermüdungserscheinungen –, kann in der Atemtherapie Hilfe und Lösung finden.
Text: Karl-Heinz Knebel
Atem-Übungen
Atemübungen sollten möglichst morgens nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen stattfinden oder wann immer Zeit und Bedarf dafür besteht.
Vollatmung
1) Legen Sie sich auf den Rücken, Beine ausgestreckt. Schließen Sie die Augen und spüren Sie den Untergrund, auf dem Sie liegen. Atmen Sie dreimal lang und tief durch die Nase ein und aus, lassen dabei Ihren Körper beim Ausatmen in Ihre Unterlage sinken.
2) Legen sie Ihre Hände mit überkreuzten Armen auf Ihre Schlüsselbeine. Atmen Sie ruhig und tief durch die Nase,
in den Schulterbereich hinein und wieder aus. Zählen Sie im Ein- und Ausatmen jeweils 4 Sekunden
und wiederholen Sie diesen Vorgang dreimal. Dies gilt auch für alle folgenden Sequenzen.
3) Legen Sie nun Ihre Hände übereinander auf Ihr Brustbein und atmen zum Brustbein hin.
4) Legen Sie jetzt Ihre linke Hand an den linken unteren Rippenbogen und die rechte Hand
an den rechten unteren Rippenbogen und atmen zu den unteren Rippen hin.
5) Legen sie Ihre Hände links und rechts des Bauchnabels auf Ihren Bauch und atmen in Ihren Bauch hinein.
6) Legen sie Ihre linke Hand auf die linke Leiste, Ihre rechte Hand auf die rechte Leiste und atmen zu Ihren Leisten hin.
Wiederholen Sie dies mindestens dreimal
Diese Übung führt zu einer flexibleren Atmung, Atemreinigung und Entspannung.
Bauchatmung
Legen Sie sich auf den Bauch, Arme seitlich an den Rumpf gelegt und den Kopf in seitlicher Lage rechts oder links.
Beginnen Sie nun durch die Nase zu Ihrem Bauch hinzuatmen. Spüren Sie beim Einatmen, wie sich Ihre Bauchdecke
in die Fläche unter Ihnen schmiegt, vom unteren Rippenbogen, über den Bauchnabel, bis zu den Leisten.
Atmen Sie anschließend wieder aus. Lassen Sie sich Zeit dazwischen. Atmen Sie 4 bis 5 Sekunden ein und bis zu 8 Sekunden aus.
Wiederholen Sie die Übung 5-mal, wenden anschließend Ihren Kopf auf die andere Seite
und führen den Vorgang nochmals aus. Die ganze Sequenz dann wiederholen.
Diese Übung regt die Bauchatmung an, massiert die inneren Organe und entlastet
und entspannt die untere Wirbelsäule und den Nacken.
Die wechselseitige Nasenatmung
1) Setzen Sie sich bequem auf einen Stuhl, Rücken aufrecht und nicht angelehnt.
2) Schließen Sie Ihre Augen und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf ihr Atmen.
3) Führen Sie die rechte Hand zur Nase und verschließen Sie mit dem Ringfinger das linke Nasenloch.
4) Nehmen Sie einen langen Atemzug durch das rechte Nasenloch. Zählen Sie während des Einatmens im Geiste 4 Sekunden.
5) Verschließen Sie das rechte Nasenloch mit dem Daumen, halten Sie den Atem an. Zählen Sie wieder 4 Sekunden.
6) Nehmen Sie den Finger vom linken Nasenloch und atmen langsam aus. Zählen Sie während des Ausatmens 8 Sekunden. Entleeren Sie Ihre Lungen dabei vollständig.
7) Atmen Sie nun wieder durch das linke Nasenloch 4 Sekunden lang ein.
8) Verschließen Sie das linke Nasenloch mit dem Ringfinger, halten Sie den Atem wieder 4 Sekunden lang an.
9) Öffnen Sie das rechte Nasenloch, atmen wieder vollständig aus und zählen bis acht.
10) Wiederholen Sie den wechselseitigen Atemvorgang zehnmal.
Diese Übung lässt sich auch mit der linken Hand ausführen, beginnend mit dem Schließen des rechten Nasenloches. Sie fördert die Konzentration, beruhigt das Nervensystem und hebt die Energie.