Alles Fake oder was?

Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen haben in der Coronakrise mehr denn je Hochkonjunktur. Kursierte anfangs erst mal nur die Behauptung, das Coronavirus und seine Folgen seien nicht schlimmer als eine Grippe, gingen wenig später die Thesen um die Welt, wonach das Virus aus einem chinesischen Labor stamme oder von verschiedenen Regierungen absichtlich in die Welt gesetzt worden sei, um die Freiheit und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken. Auch Bill Gates bekam sein Fett weg: Der Microsoft-Gründer will die Menschheit zwangsimpfen und überwachen. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Das Phänomen solcher Theorien ist freilich nicht neu, vielmehr gab es sie schon im alten Rom. Was es damit auf sich hat und wie man damit umgeht, darüber sprachen wir mit Tilman Klawier, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Hohenheim.

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(Foto: ©Aunt Spray LLC 2018 - stock.adobe.com)

TOP MAGAZIN: Herr Klawier, seit wann gibt es eigentlich Verschwörungstheorien?
Tilman Klawier: Grundsätzlich lassen sie sich schon für die Antike nachweisen. So, wie wir Verschwörungstheorien heute kennen, gibt es sie aber erst seit der Aufklärung. Zur Zeit der französischen Revolution förmlich aus dem Boden geschossen, richten sie sich gegen die Obrigkeit sowie gegen Medien und Politik. Mit der Aufklärung war die vorher als gottgegeben akzeptierte Herrschaftsordnung aufgehoben. Waren Verschwörungstheorien vor dieser Zeit eher gegen äußere Feinde und Minderheiten adressiert, stehen nun die inneren Feinde beziehungsweise die Mächte im Fokus, die man hinter einer Regierung vermutet. Daran hat sich bis heute eigentlich nichts geändert.

TOP MAGAZIN: Wie definiert man solche Theorien?
Tilman Klawier: Ich definiere eine Verschwörungstheorie als Erklärungsmuster für einen gesellschaftlichen Missstand. Aufmerksam gemacht werden soll damit auf eine Situation beziehungsweise ein Ereignis, das der gesamten Gesellschaft oder zumindest Teilen hiervon schadet. Für diesen Missstand machen Verschwörungstheoretiker eine bestimmte Personengruppe verantwortlich, die besagte Situation absichtlich und im Geheimen herbeigeführt haben soll. Mit einer Verschwörungstheorie gehen daher auch meistens eine starke moralische Verurteilung und ein hoher Emotionalisierungsgrad einher. Kennzeichnend für eine Verschwörungstheorie ist darüber hinaus, dass sie der offiziellen Erklärung für einen bestimmten Sachverhalt klar widerspricht. Dabei überschätzen Verschwörungstheorien häufig die Planmäßigkeit gesellschaftlicher Dynamiken und Entwicklungen.

TOP MAGAZIN: Was macht Verschwörungstheorien so gefährlich?
Tilman Klawier: Unter anderem die Tatsache, dass sie nicht selten als Legitimation von Gewalt dienen. Terrorattacken und Pogrome stehen häufig in direkter Verbindung mit Verschwörungstheorien. Gewalt scheint das einzige probate Mittel zu sein, um einem vermeintlichen Missstand entgegenzuwirken. Dazu kommt, dass viele Anhänger von Verschwörungstheorien wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Im Falle der Corona-Pandemie kann dies dazu führen, dass sie die vom Staat auferlegten Schutzmaßnahmen nicht ergreifen und zum Beispiel auch keinen Mund-Nasen-Schutz tragen.

TOP MAGAZIN: Wer ist hierfür besonders empfänglich?
Tilman Klawier: Letztlich alle gesellschaftlichen Schichten. Intelligenz und Bildung schützen nur bedingt vor dem Glauben an Verschwörungstheorien. Psychologische Merkmale der Anhänger solcher Theorien sind oftmals ein hohes Maß an Unsicherheit sowie persönliche und gesellschaftliche Krisen. Langeweile kann auch eine Rolle spielen. Außerdem besteht ein hohes Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild, das es aufrechtzuerhalten gilt. Wer an eine Verschwörungstheorie glaubt, verfügt vermeintlich über ein Wissen, das andere nicht haben und grenzt sich von der Masse ab.

TOP MAGAZIN: Sehen Sie in den aktuellen Verschwörungstheorien rund um Corona eine Gefahr für die Demokratie in unserer Gesellschaft?
Tilman Klawier: Verschwörungstheorien sind aufgrund ihrer grundlegenden Fehlannahmen im Hinblick auf das Funktionieren einer Gesellschaft immer eine Gefahr. Wer solchen Fehlannahmen anhängt, kann kaum noch rationale politische Entscheidungen treffen, die Voraussetzungen für einen demokratischen Dialog sind nicht mehr gegeben.

TOP MAGAZIN: Welche sind für Sie die verrücktesten Verschwörungstheorien?
Tilman Klawier: Zum Beispiel die Annahme, dass führende Köpfe in unserer Gesellschaft Echsenmenschen beziehungsweise sogenannte Reptiloide sind und die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Am absurdesten finde ich die Theorie, wonach die Erde flach ist und Eliten uns nur vorgaukeln, dass sie rund wäre.

TOP MAGAZIN: Was kann man gegen Verschwörungstheorien tun beziehungsweise wie geht man damit um?
Tilman Klawier: Wer daran glaubt, ist nur schwer wieder davon abzubringen, da die Überzeugung sehr stark und identitätsstiftend ist. Daher muss auf gesellschaftlicher Ebene immer wieder aufs Neue Aufklärung dahingehend betrieben werden, wie Verschwörungstheorien funktionieren. Ebenso ist anhand der Geschichte aufzuzeigen, was sie angerichtet haben. Ich erinnere unter anderem an die Dolchstoßlegende, vor allem aber an den Mythos der jüdischen Weltverschwörung, der letztlich zum Holocaust geführt hat. Prävention muss also oberste Priorität haben – gerade auch im schulischen Kontext, bevor Jugendliche im Internet damit in Berührung kommen.Die Fragen stellte Matthias Gaul

 

Verschwörungstheorie

• 1144 taucht in England zum ersten Mal die Ritualmord-Legende auf, wonach die Juden zum Pessachfest ein christliches Kind entführen und wie Jesus Christus martern sowie töten würden.

• Der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart soll 1791 angeblich von Freimaurern ermordet worden sein.

• Die gegen Ende des Ersten Weltkriegs 1918 in deutschnationalen und völkischen Gruppen verbreitete Dolchstoßlegende besagt, dass Sozialdemokraten, andere Demokraten sowie Juden durch „Verrat von hinten“ für die deutsche Kriegsniederlage verantwortlich gewesen seien. Neben der jüdischen Weltverschwörung diente die Theorie als Wegbereiter für den Aufstieg der Nationalsozialisten.

• Die Mondlandung der beiden US-Astronauten Neil Armstrong, Edwin „Buzz“ Aldrin und Michael Collins im Zuge der Mission Apollo 11 am 21. Juli 1969 soll von der NASA in einem Filmstudio mit einer Raumschiff-Attrappe inszeniert worden sein. Hintergrund dieser Behauptung:
Die USA wollten die Welt mit allen Mitteln glauben lassen, Amerika
sei als „Weltmacht Nummer eins“ als erstes auf dem Mond gewesen.

• Das britische Königshaus soll den britischen Geheimdienst MI6 mit der Tötung von Lady Di – sie starb am 31. August 1997 bei einem Verkehrsunfall in Paris – beauftragt haben, um eine Schwangerschaft Dianas mit ihrem Geliebten Dodi al-Fayed zu vertuschen.

• Die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die beiden Türme des New Yorker World-Trade-Centers sollen von der US-amerikanischen Regierung beziehungsweise der CIA inszeniert worden und die Flugzeuge nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, um die Türme mittels Sprengsätzen zum Einsturz zu bringen – als Vorwand, um in den Nahen Osten einzumarschieren und sich an seinen Ölreserven zu bedienen.

• Die 2017 in den USA entstandene QAnon-Bewegung wartet gleich
mit einer ganzen Reihe von Verschwörungstheorien auf: So soll zum Beispiel eine geheime Elite („Deep State“) Kinder entführen, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen und damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Zu dieser Elite sollen unter anderem Politiker wie Hillary Clinton und Joe Biden oder Superreiche wie Bill Gates und George Soros gehören. Auf der „guten“ Seite stehe Donald Trump, der den Kampf gegen den „Deep State“ aufgenommen habe. Mittlerweile hat die Bewegung auch über die US-Grenzen hinaus zahlreiche Anhänger gefunden.

• Auf Demonstrationen gegen Einschränkungen in der Corona-Krise tragen die Teilnehmer häufig einen Aluhut. Er soll den Kopf des Trägers vor schädlicher Strahlung oder einer Kontrolle der Gedanken durch finstere Mächte schützen. Dazu passt die These, wonach das Coronavirus mit der 5G-Strahlung übertragen und unsere Gedanken über die Funkwellen kontrolliert werden. Der Begriff „Aluhut“ ist eine Anspielung auf die zuerst 1927 von Julian Huxley in seiner Kurzgeschichte „The Tissue-Culture King“ vorgestellte Wahnidee, eine Kappe aus Metallfolie könne telepathische Einflüsse auf das Gehirn blockieren.