Der Weg zur Selbstliebe

Was ist eigentlich los? Da ist diese Aggressivität, diese Gewaltbereitschaft. Wut und Angst, gepaart mit Intoleranz. Dazu kommt eine innere Unberührtheit, eine Entfremdung von sich selbst. Gleichzeitig werden die ökologischen Probleme, Auswirkungen des bedenkenlosen Ausbeutens und Konsumierens der Erde, immer bedrohlicher und irreversibler. Es ist, als ob das menschliche Bewusstsein sich in einem Stadium des völligen Allmachtsgefühls verloren hat und keine Naturgesetze, keinen Halt mehr kennt. Was da fehlt? Ganz einfach: die Liebe. Zu sich selbst, zu den Tieren, den Pflanzen, der Erde.

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(Foto: ©fabioberti.it - stock.adobe.com)

Albert Einstein soll in einem Brief an seine Tochter geschrieben haben, dass die Menschen vor der Liebe Angst haben, weil sie die einzige Macht im Universum ist, die sie nicht nach ihrem Willen steuern können. Und so treibt uns die Sehnsucht nach Liebe und gleichzeitig üben wir uns im Widerstand zu ihr. Bewusst und unbewusst. Ein Schlüssel zur Liebe ist der Weg zur Selbstliebe, denn was wir in und an uns lieben, lieben wir auch im Außen. Was wir aber in und an uns ablehnen, lassen wir im Außen auch nicht gelten. Dieser Weg ist, wenn ehrlich gemeint, kein leichter Weg. Aber er lohnt sich.  Wer wünscht sich nicht innere Freiheit und Frieden? Offen zu sein in Mitgefühl und Dankbarkeit für das Leben. Frei von Verstrickungen. „Ich fühle mich depressiv, leide an nie gekannten Ängsten“ oder „Ich nehme meine Gefühle nicht mehr wahr, spüre mich nicht mehr.“ Weiter: „So kenne ich mich nicht. Ich bin mir selbst fremd geworden. In mir ist eine stumpfe Leere.“ Und: „Ich erlebe, oft unbegründet, wie Aggressionen in mir auftauchen.“

 

Solche Empfindungen sind Alarmsignale, die jeden Menschen wachrütteln sollten, der sie erlebt. Und dies betrifft viel mehr Menschen, als man denkt.  Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann ganz häufig, dass diese Menschen im Innersten an sich zweifeln. Ob sie gut genug sind, ob sie ihren eigenen Ansprüchen genügen oder vor den Augen anderer bestehen können. Bin ich, so wie ich bin, richtig? Bin ich, so wie ich bin, wirklich liebenswert? Dahinter steckt oft ein grundlegendes Missverständnis, nämlich das Verwechseln von Anerkennung mit Liebe. Anerkennung bekommen wir für das, was wir geleistet haben. Liebe hingegen wird uns geschenkt, weil es uns gibt, als Menschen in unserem So-sein und Da-sein. Genau das geschieht, nicht sofort und nicht auf einmal, wenn wir uns auf uns selbst einlassen. Manche Hürden werden diesen Weg begleiten. Unverarbeitete Themen aus der Kindheit, seelische Wunden, die noch brennen, Zweifel, Schuld- und Schamgefühle. Aber es lohnt sich, denn der Weg zur Selbstliebe ist auch ein Heilungsprozess.


Was ist mit Selbstliebe gemeint?
Selbstliebe ist eine bestimmte Haltung, die wir uns entgegenbringen. Sie besteht aus einem achtsamen, offenen, freundlichen und fürsorglichen Umgang mit uns selbst. Sie zeigt, wie wir mit uns selbst verbunden sind. Zu lernen, sich selbst ­anzunehmen, nicht nur darin, wo wir uns gefallen, sondern auch darin, wo wir uns nicht mögen, seien es Gedanken, Gefühle, körperliche Erscheinung, Verhaltensweisen. Es ist eine lebenslange Reise mit und zu uns selbst. Sie beginnt damit, dass wir ein wohlwollendes Interesse für uns aufbringen und je mehr uns das gelingt, desto mehr spüren wir tiefe Dankbarkeit, Mitgefühl und Geborgenheit in uns.

 

Was mit Selbstliebe nicht gemeint ist!
Vielen Menschen ist die Vorstellung, sich selbst zu lieben, irgendwie suspekt. Selbstliebe wird gerne mit egozentrischem Verhalten oder narzisstischem Geltungsbedürfnis verwechselt. Doch dem ist nicht so. Ein egozentrischer Mensch ist nur auf sein eigenes Ich fixiert. „Me, myself and I“ lautet seine Devise. Sie sind nicht wirklich mit ihrem Selbst in Kontakt. Einem egozentrischen Menschen fällt es schwer, sich hinzugeben, sich anzuvertrauen und wirklich zu lieben. Sein Ego möchte kontrollieren, bestimmen. Ein narzisstischer Mensch ist in sein ­Idealbild von sich verliebt. Er findet sich wieder in Bildern seiner eigenen Groß­artigkeit und reagiert sehr empfindlich auf Versuche seiner Umwelt, ihn auf den Boden der Wirklichkeit zu stellen. Narzisstische Menschen haben in ihrer Kindheit wenig echte Liebe erfahren und versuchen als Erwachsene, ihren über­großen Hunger nach Liebe durch eine intensive Suche nach Lob und Anerkennung zu kompensieren.

 

Woran erkennen wir den Unterschied?
Wir erkennen den Unterschied zwischen einem Egozentriker oder einem Narzissten und einem selbstliebenden Menschen daran, wie wir uns in deren Nähe fühlen. Im Zusammensein mit einem um sein Ego kreisenden Menschen fühlen wir uns unwohl, benutzt und manipuliert. Wir erleben uns als nicht gesehen, nicht wahrgenommen, als der Mensch, der wir sind. In der Nähe eines sich selbst liebenden Menschen fühlen wir uns wohl und akzeptiert, so wie wir sind. Weil dieser Mensch gelernt hat, sich selbst zu akzeptieren, sich anzunehmen und damit auch seine Mitmenschen. Selbstliebe bedeutet also nicht, sich wie ein Egozentriker nur um sein eigenes Ich zu drehen oder wie ein narzisstisch geltungsbedürftiger Mensch nach außen als außergewöhnlich darzustellen. Selbstliebe ist untrennbar mit Achtung, Wertschätzung, Wohlwollen und Fürsorge für sich selbst und ebenso für alles Leben um sich verknüpft.

 

Was können wir tun, um uns auf den Weg der Selbstliebe zu begeben?
Zunächst ist es von großer Hilfe, sich immer wieder daran zu erinnern, dass niemand perfekt ist und dass es keinen perfekten Weg gibt. Perfekt sein wollen ist eine Vorstellung und ein Ersatz für fehlende Selbstliebe.

 

Innehalten, sich wahrnehmen, Achtsam sein
Hierzu eine kleine Geschichte: Völlig außer Atem rennt ein Mann zum  Bootssteg, wirft seinen Koffer auf die zwei Meter vom Kai entfernte Fähre, springt  hinterher, zieht sich mit letzter Kraft über die Reling und ruft: „Geschafft!“ – „Gar nicht so schlecht“, meint ein Matrose, „aber warum haben Sie nicht gewartet, bis wir angelegt haben?“ Wir sind so geschäftig in unserer All­tagswelt, deren Aufgaben und unserem Wunsch, alles richtig zu machen, dass wir oft atemlos werden und keinen inneren Abstand mehr zu unserem Tun halten können. Wie der Mann in der Geschichte verkennen wir unsere eigene Realität und strengen uns dabei noch gewaltig an. Es wäre also besser, einfach mal innezuhalten und sich neu zu besinnen, einen Check up mit sich selbst zu machen. Nehmen Sie sich die Zeit auch mal alleine zu sein, sei es in der Natur, sei es bei Ihnen zu Hause. Stellen Sie in dieser Zeit alles ab, was zu einer Unterbrechung führen kann, Telefon, E-Mails, Fernseher, Radio, so dass Sie ungestört sein können. Gar nicht so leicht zum aushalten.

 

Wenn Sie in der Natur sind, suchen Sie sich Wege, auf denen Sie gerne entlang gehen, Plätze, an denen sie gerne verweilen, weil Sie sich dort wohlfühlen. Nehmen Sie Geräusche, Gerüche, Farben, Licht, Dämmerung, die Stimmung wahr. So kommen Sie ganz allmählich aus dem Kopf, weg aus Ihrem Gedankenkarussell. Können durchatmen. Oder machen Sie es sich zu Hause bequem, es findet sich bestimmt ein Platz, auf dem Sie sich richtig wohlfühlen, das Sofa, der Sessel, oder auf einer Matte. Lauschen Sie einer CD mit entspannender Musik oder einer geführten Meditation. Sie werden herausfinden, was Ihnen gut tut. Ob in der Natur oder zu Hause, wenn Ihr Atem ruhig wird, Sie sich wohlig und aufgehoben fühlen, können Sie sich die Frage stellen: Was will ich und was brauche ich wirklich? Geben Sie sich eine ehrliche Antwort. Auch dies wird Ihnen gut tun. Darüber hinaus gibt es viele Möglichkeiten, sich einen liebevollen Ausgleich zum Alltag zu schaffen (siehe Kasten).


Suchen Sie sich Unterstützung und seien Sie offen für neue Erfahrungen
Wir sind soziale Wesen und brauchen einander, sind auf liebevolle, vertrauensvolle und wechselseitig nährende Beziehungen und Begegnungen angelegt und ange­wiesen. Es ist sehr trügerisch zu glauben, alles alleine schaffen zu können. Wenn wir uns mit unseren Gedanken, Gefühlen und unserem Leben einigeln, bleiben wir die Zwerge unserer Ängste und die Riesen unserer Träume. Und erfahren tiefe Einsamkeit. Wie schon erwähnt, haben viele Menschen seelische Wunden, Verletzungen, deren Ursprünge in der eigenen und kollektiven Biographie zu finden sind. Es ist sehr sinnvoll, sich professionelle Un­terstützung bei erfahrenen Coachs oder Psychotherapeuten zu holen. Sie sind Begleiter auf dem Weg zur Selbstliebe. Es erfordert manchmal Mut, aus dem vertrauten Alltag auszutreten und sich auf Neues einzulassen. Krisen geben uns die Chance, sein „gemütliches Elend“ hinter sich zu lassen, so vertraut es auch sein mag. Wir brauchen auch ehrliche Freunde, vertraute Personen, die uns ganz offen spiegeln. Nehmen Sie deren Wahrnehmung von Ihnen an, bleiben Sie offen dafür, auch wenn es nicht immer angenehm ist. Wir brauchen ehrlich gemeinte Feedbacks. So fühlen wir uns wahrgenommen in dieser Welt und können ein Gefühl der Geborgenheit entwickeln.

 

Vertrauen finden und sich darin üben
Dieser Teil des Weges zur Selbstliebe gehört zu den Schwierigsten. Warum? Weil Vertrauen die Voraussetzung für alles innere Wachsen ist, für die Fähigkeit, das Leben anzunehmen, wie es ist. Und weil Vertrauen immer wieder gefunden werden muss, denn es ist so leicht zu erschüttern und schwer, sich dem Vertrauen wieder anzunähern. Einerseits macht Vertrauen verletzbar, kann enttäuscht werden. Andererseits gibt es ein Grundvertrauen ins Leben und zu sich selbst, das einem inneren und äußeren Halt gibt. Ein tiefes Selbstverständnis für das Leben, ein Gefühl des Getragenseins in dieser Welt. Einen Raum in uns, der, je mehr wir zur Selbstliebe finden, sich uns öffnet, unantastbar wird, in den wir uns zurückziehen und aus dem heraus wir in Beziehung zu uns selbst und zur Welt ­treten können. Kreativ und voller Mit­gefühl. Das ist der tranzendente Aspekt von Selbstliebe. Hierzu eine kleine Geschichte: Zornig packt die kleine Lisa ihre Puppen, Mal­bücher und all die anderen Sachen in einen Koffer und stürmt zur Haustüre.

 

Dort rennt sie ihrem Vater direkt in die Arme. „Nanu“, fragt er überrascht, „willst Du uns verlassen?“ – „Ja“, sagt Lisa trotzig, „weil Mami mich schlecht behandelt hat, geh` ich zurück zu meinem Storch!“ Kinder, sofern sie nicht in den Grundfesten ihres Seins erschüttert wurden, haben dieses Vertrauen noch ganz unbedarft und finden darin einen Halt. Und sie können durch ihre Eltern oder andere Bezugspersonen darin gestärkt werden. Für die kleine Lisa war es ihr Storch, der sie einst brachte und zu dem sie jederzeit zurückkehren konnte. Wie sie dachte. Als Erwachsene bietet sich uns die Möglichkeit, Grundvertrauen durch unsere Lebenserfahrungen zu gewinnen. Durch eine ungetrübte und versöhnende Einsicht in unser Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, glücklichen und unglücklichen Momenten.

 

Vom Kopf zum Herzen finden
Als Menschen sind wir darauf angelegt und fähig, uns immer wieder einen neuen Lebenssinn zu geben. Voraussetzung ist, dass wir aus alten Denkmustern und Einstellungen heraustreten um sich Neuem zu öffnen. Oft zeigt sich ständige Unzufriedenheit gerade darin, aus all dem alten, vorgegebenen Leben nicht hinaustreten zu können oder zu wollen. Wenn wir uns vom Kopf ins Herz spüren, zeigen sich Antworten und Wege auf, die wir ­vorher nicht wahrgenommen haben. Das Herz zeigt, um was es jetzt geht, der Kopf zeigt, wie dieser Lebenssinn umzusetzen ist. Vom Primat des Verstandes zum Primat des Herzens. So lernen wir, gut mit uns, den Mitmenschen, den Pflanzen und Tieren und der Erde umzugehen.

 

Im Grunde sagen alle spirituellen Lehren dieser Welt etwas sehr Ähnliches: Werde still! Gehe nach innen! Komm zur Ruhe! Höre auf die Stimme deines Herzens! Sei gut zu Dir selbst! ... bis die Liebe fließt! In seinem Brief an seine Tochter soll ­Albert Einstein noch geschrieben haben: „Wenn wir wollen, dass unsere Art über­leben soll, wenn wir einen Sinn im Leben finden wollen, wenn wir die Welt und alle fühlenden Wesen, die sie bewohnen, retten wollen, ist die Liebe die ein­zige und letzte Antwort.“ In Selbstverantwortung fürsorglich und in Achtsamkeit mit sich umzugehen, ist ein Schlüssel zu dieser Liebe.
Text: Karl-Heinz Knebel

 

MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction) ist eine auf Achtsamkeit beruhende Stressreduktion, ein wissenschaftlich anerkanntes Programm zur Stressbewä­ltigung und Stärkung des Immun­systems. Es wurde in den 1970er Jahren von Dr. Jon Kabat-Zinn, einem international anerkannten Verhaltensmediziner, entwickelt. In klinischen Studien wurden positive Wirkungen bei der Behandlung unter anderem von chronischen Schmerzzuständen, Ängsten und Depressionen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Migräne wie auch Schlafstörungen und Burn-out Syndromen nachgewiesen. In der Praxis umfasst MBSR ein achtwöchiges Programm zum Erlernen der einzelnen Schritte.


Zum Entschleunigen, Entspannen, zur Stärkung des Immunsystems, zur Stabilisierung der Psyche, des zentralen, peripheren  und vegetativen Nervensystems, zur Unterstützung des Körperbewusstseins, zum Auflösen psychischer und physischer Anspannungen erweisen sich eine Vielzahl an multifunktionalen Methoden als positiv wirkungsvoll: Yoga, Tai Ji Quan, Qi Gong, Feldenkrais, sowie körper- und atemorientierte Psychotherapie, um nur einige zu nennen.