Spiritualität

Was ist Spiritualität? Und wie lässt sie sich von Religion, Esoterik oder Psychotherapie abgrenzen? Oftmals wird sie als „Psychokram“ bezeichnet. Doch das wird der Tiefe dieses Begriffs nicht gerecht. Deshalb soll hier der Versuch unternommen werden, Spiritualität als das verständlich zu machen, was sie für unser Menschsein und damit im weitesten Sinne auch für unsere Gesundheit bedeutet.

image

© freshidea – stock.adobe.com

Ängstlichkeit, Depression, Unsicherheit und Fragen nach dem Sinn des Lebens erfassen heute viele Menschen, die ansonsten fest im Leben stehen. Dazu kommen oft eine tendenzielle Ermüdung und Überdrüssigkeit. Wissenschaftler, Philosophen, Psychologen und geistige Lehrer wie der Dalai Lama sprechen heute gerne von einer Ursache, der all diese Symptome zu Grunde liegen mögen: das Fehlen einer persönlichen Spiritualität. Versteht man Spiritualität zunächst ganz allgemein als Be-
mühen um ein sinnerfülltes Leben, dann liegen die Verbindungen zum Gesundheitsverhalten eines Menschen auf der Hand. 1971 wurde auf einer Konferenz
im Weißen Haus „spirituelles Wohlbefinden“ umschrieben als „innere Ressource des Menschen, sein wichtigstes Anliegen und grundlegenden Wert, auf den alle anderen Werte ausgerichtet sind – ganz gleich, ob religiös, antireligiös oder nicht religiös“.
Seitdem die WHO „spirituelles Wohlbefinden“ als einen eigenständigen Bestandteil umfassender Gesundheit sieht, forschen Gesundheitswissenschaftler vermehrt nach seinen Bedingungen. Psychologische Effekte religiöser Glaubensüberzeugungen wie Vertrauen, Hoffnung, Sinngebung oder Vergebungsbereitschaft wirken sich offenbar wohltuend auf die Gesundheit aus. Durchaus betrachten manche Gesundheitsforscher spirituelle Gesundheit neben der psychischen, sozialen, biologischen und ökologischen Dimension als weiteren Faktor für umfassendes Wohl­befinden, der gleichberechtigt zu berücksichtigen und zu fördern sei.
Jedes menschliche Wesen ist auch ein geistiges Wesen. Die Frage ist also nicht, ob wir Spiritualität haben, sondern ob diese eine negative ist, die zur Isolation und Selbstzerstörung führt, oder eine positive, die verbindet und Leben spendet.

 

Etymologie und Historie

Spiritualität leitet sich von lateinisch „Spiritus“ ab, was „Geist“ oder „Hauch/Atem“ beziehungsweise „spiro“ – „ich atme“ bedeutet und im weitesten Sinne „lebendig sein“ umfasst. Es meint die Suche nach einer durch unsere Sinne erfahrbaren und gleichzeitig nicht fassbaren allumfassenden, transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt und die sich rational und kognitiv nicht erklären lässt. Spiritualität bedeutet in diesem Kontext eine innere Haltung und Einstellung zum Leben, die zulässt, dass man als Mensch in etwas Größeres eingebettet ist und liebevoll getragen wird. Gar nicht so leicht in einer Welt, die einem den Glauben vermittelt und den Anspruch ein­meißelt, selbst seines Glückes Schmid zu sein. Und das in Konkurrenz zu seinen Mitmenschen. Sich so diesem Größeren anzuvertrauen, verlangt viel Kraft und Selbstverantwortung. Und Mut zum Loslassen.
Im Laufe der Zeiten veränderte sich die Bedeutung von Spiritualität beziehungsweise eines spirituellen Lebens. In der Antike wurde der Begriff zunächst als Gegensatz zu allem Materiellem, Erdverhaftetem und Weltlichem benutzt und bedeutete eine Konzentration auf geistige statt auf materielle Werte. So entstand das Mönchtum, der Wunsch nach weltabgewandtem, asketischem Leben. Das Wort Spiritualität geriet dann im Mittelalter außer Gebrauch, war eher ein Synonym für Frömmigkeit. Erst in der Neuzeit und verstärkt seit den 1960er-Jahren wurde es wieder zum Leben erweckt. Wieder um einen Gegensatz zu bezeichnen, diesmal nicht nur als Gegensatz zu „Materialismus“, sondern auch als Gegensatz zu festgelegter Religion. In gewissem Sinne ein Versuch, einen Mittelweg zu finden zwischen völliger Ablehnung und unkritischer Umarmung „der Welt“ oder „der Kultur/Gesellschaft“, in der man lebt. Viele werden sich noch an die Hippie-­Bewegung erinnern. Östliche Religionen wie der Buddhismus oder Hinduismus hielten Einzug in die Gefilde der westlichen Welt. Reisen jener jungen Generation bis nach Indien wurden unternommen, getrieben von Abenteuerlust und Sinnsuche. Ganz allmählich und leise veränderte sich nochmals der Sinn des Wortes „Spiritualität“.
Gelebte Spiritualität meint heute ein Leben in der Welt, wie sie ist. In ihrer Dualität von Hellem und Dunklem, von Schönheit und Hässlichkeit. Jedoch nicht als Mensch losgelöst von ihr, sondern sie annehmend und begreifend, dass man selbst sich in dieser Dualität befindet, nicht vollkommen ist. „Alles Leben ist Begegnung“, schrieb Martin Buber. Und Begegnung umfasst ein „sich berühren lassen“, ein Teilnehmen in tiefem Mitgefühl und die Fähigkeit zur Verbundenheit. Wie und auf welche Art und Weise sich einem diese zutiefst menschlichen Eigenschaften erschließen, durch Gebet und Meditation, durch so­ziales Engagement oder sonst wie: Hier ­findet sich das Verbindende, Lebenspendende und nicht das Trennende, Lebensabweisende. Hier findet sich eine gesunde Spiritualität, aus der heraus ein Lebenssinn, eine Lebensfreude erwächst. Ausdruck einer gemeinsamen Welt, in der niemand vereinzelt, einsam und verzweifelt vor sich hinleben muss.

 

Spiritualität und Religion

Die Sprache der konfessionellen Religion betont das Solide, die der Spiritualität
das Fließende. Menschen suchen Halt in Regeln, festen Abläufen, Ritualen. Daran ist nichts falsch. Nur wenn Erstarrung eintritt, an den äußeren Umständen festgehalten wird und Rituale nicht mehr mit Leben gefüllt werden, kommt es zu einer Inhaltsleere, einer spirituellen Leblosigkeit, zu Stillstand. Spiritualität sucht das Verbindende, findet sich in der Sehnsucht nach Leben, die auch allen Religionen zugrunde liegt. Leider wird in den Religionen gerne aus- und abgrenzt: Wir und die anderen, mit der Einstellung, selbst auf der „richtigen Seite“ zu stehen, während die anderen bestenfalls sich verirrt haben, „ungläubig“ sind. Spiritualität lebt vom offen und neugierig sein, vom Wunsch, sich dem Fremden zu nähern und es zu verstehen, wie auch selbst verstanden zu werden, um daran zu wachsen.  
Konfessionell organisierte Glaubensformen manifestieren sich gerne in Doktrin, Lehre und Autorität, mit Belohnung und Strafe und folglich mit Habgier und Furcht. Spiritualität dagegen entfaltet sich im Raum individueller Freiheit, in der durch die Erfahrungen des Lebens sich die Gesetze der Natur und des Transzendenten offenbaren können. Letztendlich mögen spirituelle Menschen durchaus in Religionen zu Hause und Religionen von gelebter Spiritualität durchzogen sein. Leo Booth, ein US-amerikanischer Priester und Buchautor verfasste den Satz: „Spiritualität ist die Seele einer jeden Religion.“ Bleibt noch zu sagen: Zumindest in ihren Ursprüngen.

 

„Wenn Du die Welt verändern willst, musst Du bei Dir selbst anfangen!“

(Aristoteles, 4.Jhdt. v. Chr.)

 

Spiritualität und Psychotherapie

Psychotherapie wird gerne als Konglomerat moderner Konzepte und Methoden der Neuzeit verstanden. Als Vater wird im ­allgemeinen Sigmund Freud mit seiner Entwicklung der Psychoanalyse gesehen. Allerdings gab es schon in der Antike den Begriff „Therapie“ und war Ausdruck spirituellen Heilens. Das Wort Therapie leitet sich ab von altgriechisch „therapeuon“ – der Begleiter. Ein Mensch, der die (Heil)Kunst beherrschte, einen seelisch kranken Menschen in einem Prozess der Heilung zu begleiten, ihn wieder „ganz“ zu machen. Es gab keine Kultur, die nicht Frauen und Männer hatte, die als „therapeuon“ geachtet wurden. Ausgelöst durch einen allmählichen Übergang der praktischen Medizin von einer Kunst zu einer Wissenschaft, sind die meisten Therapiemethoden heute nicht mehr als spirituell zu verstehen. Da es nun das Ziel der Spiritualität und der Psychotherapie ist, den Menschen gesund (heil, ganz) zu machen, werden die Grenzen beider häufig verwechselt. Spiritualität ist aber nicht daran interessiert, zu messen, zu beweisen oder Hand anzulegen. Psychotherapie sucht die Ursprünge, die treibenden Kräfte, die einen erkranken ließen. Sie versucht, den Menschen von einer Krankheit zu befreien. Spiritualität befreit zum Leben (trotz einer Krankheit), zum Einklang des Selbst mit der Wirklichkeit, die es umgibt. Im weitesten Sinne bietet Psychotherapie ­Erklärungen, Spiritualität Vergebung. Beides kann notwendig sein, aber eines ist nicht das andere.

 

Spiritualität und Esoterik

Beides wird gerne aus Unwissenheit verwechselt oder in einen Topf geworfen. Esoterik kommt vom altgriechischen „esoterikos“, was soviel heißt wie „innerlich“, dem „inneren Bereich zugehörig“ dem „inneren Wissen folgend“, also einem spirituellen Weg folgend. Heute wird unter Esoterik ein Sammelsurium von Geheimlehren, Magie, Okkultismus, Grenzwissenschaften, Prophezeiungen, Spiritismus, Heilslehren, Tarot legen oder die Beschäftigung mit Ufos und Außerirdischen verstanden, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Auf mentaler Ebene wird versucht, (scheinbar) nicht Erklärbares zu erklären. Dabei entwickeln sich oft Gemeinschaften (Sekten), die von skurrilen oder obskuren Ideologien beherrscht ­werden und sich durch ein „wir hier und dort die anderen“ abgrenzen, wobei die anderen abgewertet werden.
Ein riesiger Büchermarkt und heute auch das Internet füttern mit einem gewaltigen Angebot an „Wahrheiten“ die Köpfe der Menschen. Über ein vermeintlich besonderes und nur wenigen Menschen zugängliches Wissen, an dem man teilhat, bedienen viele ihren Narzissmus, ihr Halbwissen und das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Auch muss man sich seiner Realität nicht stellen und kann in einem „Kokon selbstgestrickter Wahrheiten“ unerreichbar für andere (außer Gleichgesinnten) seine Welt kultivieren.
Spiritualität dagegen lebt nicht im Außergewöhnlichen noch muss sie sich zu an­deren abgrenzen. Bei ihr geht es nicht darum, die Welt wie auch immer zu erklären, sondern durch Erfahrung, auch in Glück und Freude, in Schmerz und Leid, sich der Welt zu stellen. Mit anderen ­Worten: in dieser Welt zu sein, wie auch immer sie sich zeigt. Auch als ganz gewöhnlich.

 

„Sobald wir lernen,
uns selbst zu vertrauen, fangen wir an zu leben.“

(J.W. von Goethe)

 

Spiritualität erfahren

Der Kompass zur eigenen Spiritualität findet sich in der Fähigkeit und Bereitschaft, das Leben auf eine neue Art zu erfahren. Diese Erfahrungen haben eines gemeinsam: Sie können nicht herbeibefohlen oder beliebig hervorgerufen werden. Sie geschehen – und wir erfahren sie, wenn wir offen für sie sind, aber wir können sie nicht steuern, wann und wie sie uns treffen. Hier zeigt sich ein kleines Geheimnis, das es in sich hat. Der Mensch wird geboren und lernt zu machen, zu kontrollieren, zu tun. Das gibt ihm Sicherheit und Identität. Jetzt wird etwas verlangt, was ihn zunächst verunsichert und vermeintlich in Frage stellt: die Bereitschaft, geschehen zu lassen, nicht herbeiführen zu wollen. In dieses Vakuum des Nichtkontrollierenwollens hinein kann das Neue geschehen, das genau jetzt seine Richtigkeit hat, den Menschen innerlich wachsen zu lassen. Mit anderen Worten: Solange der Mensch festhält, ist er an etwas gebunden und nimmt sich die Möglichkeit für das Neue. Los­lassen wird als Befreiung erlebt, aus der heraus von ganz allein die Erfahrung von Dankbarkeit erwächst. Hieraus wiederum erleben wir Demut. Demut bedeutet hier einfach, zu akzeptieren, dass man Mensch ist, mit all seinen angenehmen und un­an­genehmen Seiten. Demütig sein heißt, nicht zu vergleichen. Daraus ergibt sich eine Leichtigkeit des Seins, ein Humor, der auch nicht vor einem selbst halt macht. Und zunächst die eigenen Mängel und Fehler zu sehen, ist auch Demut. Aus ihr erwächst eine neue Erfahrung: Toleranz.
Toleranz hilft, dass man dranbleibt, in Selbstverantwortung die eigenen Schwächen und Fehler zu akzeptieren. Daraus kann eine weitere Verantwortung wachsen: die Schwächen und Grenzen derer zu akzeptieren, die einem sehr nahe sind und darüber hinaus schließlich jene Menschen miteinzubeziehen, die einem eher unangenehm, fremd oder auch bedrohlich sind. All diese bis jetzt wiedergegebenen Erfahrungen sind der Boden für eine der wesentlichen spirituellen Erfahrungen: der Fähigkeit, Vergebung zu erleben und vergeben zu können. Ein spiritueller Lehrer schrieb einmal: „Der Groll ist das größte Gift für ein gesundes Leben. Aus dem Groll gehen alle spirituellen Krankheiten hervor.“ Zorn, Wut und Ärger sind kurzzeitige Aspekte von Groll. Ein anderes Wort für Groll ist „Ressentiment“, was soviel wie „Abneigung“ meint. Das heißt, der Mensch klebt fest an etwas schmerzlich Erlebtem in der Vergangenheit. Es ist sein Schmerz, seine Verletzung, seine ­Opferrolle, an der er festhängt und festhält. Er ist eingeschlossen in eine quälende Vergangenheit.

 
„Eine Minute Wut schwächt das Immunsystem für vier bis sechs Stunden, eine Minute Lachen stärkt es für 24 Stunden.“

Joe Dispenza, Neurowissenschaftler


Es bedarf großen Vertrauens, um die Ängste loszulassen, die mit der alten Identität verbunden sind. Die Vergan­genheit weggeben, sich von ihr lösen, ist sicherlich eines der wunderbarsten spirituellen Geschenke, die erfahrbar sind. Je mehr eine innere Freiheit erfahren wird, desto mehr findet sich ein Gefühl und ein Wissen ein, nach Hause zu kommen, geborgen zu sein. Es bedeutet, sich vom Leben berühren zu lassen, uneingeschränkt und ohne Ausklammerung. Wenn der Mensch Nähe und Begegnung zulässt, erlebt er Fülle und Liebe und möchte diese weitergeben. Dann ist er angekommen.

 

„Und wenn Du etwas ganz
fest willst, dann wird das
ganze Universum dazu beitragen, dass Du es bekommst.“

Paulo Coelho, Schriftsteller

 

 

>> Tipps für ein glückliches Leben

• Meditation ist die Basis für innere Ruhe.
• Erleben Sie Ihren Alltag bewusster.
• Seien Sie dankbar für die vielen schönen Dinge, die Ihnen das Leben bietet.
• Vergleichen Sie sich nicht mit anderen Menschen und reden Sie nicht schlecht über andere.
• Haben Sie Mut für Veränderungen in Ihrem Leben.
• Beobachten Sie ihre Gedanken und lenken Sie sie in eine andere Richtung, wenn sie wehtun oder Ihnen Ihr Leben nicht behagt.
• Folgen Sie Ihrer Intuition mit deren feinen Signalen.
• Sehen Sie die Dinge mit Humor.

 

Text: Karl-Heinz Knebel