Freitag, 29 März 2024

Auf die Seele hören

Wir leben in einer zunehmend dynamischen und hochkomplexen Welt. Das Lebenstempo hat sich merklich beschleunigt, der Alltag erscheint unsicherer und krisenhafter, beruflich wie privat. Zunehmender psychischer Stress ist eine spürbare Auswirkung davon. Ängste, Zukunftssorgen und Verunsicherung sind zu allgemeinen Begleitern geworden. Worauf kann man sich verlassen, was gibt einem Menschen in all den Veränderungen Stabilität, Sicherheit und Vertrauen? Wo und was ist der Anker für inneren Halt?

image

(Foto: © Jon Anders Wiken – stock.adobe.com)

Der spanische Lyriker Machado schrieb: „Wanderer, deine Spuren sind der Weg, und sonst nichts; Wanderer, es gibt keinen Weg, der Weg entsteht im Gehen.“ Die scheinbare Beliebigkeit und mangelnde Verlässlichkeit des Lebens verlangen nach einem inneren Anker, der als verlässlicher Orientierungspunkt im Leben dient. Einem inneren Kompass, der hilft, gelassener und vertrauensvoller durch das Leben zu gehen. Dieser Kompass wohnt in jedem Menschen und er teilt sich als innere Stimme als innere Stärke mit. Er gibt die Kraft, aus alten Mustern herauszutreten, neue Wege zu wagen, Mut zu finden, um zu sich zu stehen und das zu sein, was wirklichen Frieden bringt: ein authentischer und in sich stimmiger Mensch. Und es ist auch der Ort, an dem der Mensch um seine Würde und seine Werte weiß. Dieser Kompass, dieser Ort ist die menschliche Seele. Der Mensch ist ein beseeltes Wesen und das meint zweierlei: Zum einen eine Seele zu haben und mit ihr in Berührung zu sein. Zum anderen ein beseeltes Leben führen zu können mit Freude, Hingabebereitschaft und aus tiefstem Seelengrund lebendig zu sein.


Ein Chirurg soll mal geäußert haben, es gäbe keine Seele, er habe schon viele Menschen obduziert, aber eine Seele habe er nie gefunden. Sie ist also kein Organ des Menschen im herkömmlichen Sinne, sondern lässt sich in gewisser Weise als Zuhause des unbewussten und bewussten Menschseins beschreiben. Sie ist mehr als Körper, Emotionen und Verstand. Man kann die Seele als Ausdruck des „Spürbewusstseins“ begreifen: als Erahnen, Erfühlen, intuitiv Erfassen. Durch die Fähigkeit, in sich hineinzu­spüren, kommt man seinem Innersten auf die Spur. Das kognitive Bewusstsein allein verfügt nicht über diese Möglichkeit. Das kleine medizinische Fachgebiet der Psychosomatik spricht hier gerne über die gegenseitige Einflussnahme von biologischen Prozessen (Körper), denkendem Bewusstsein (Geist) und fühlendem/spürendem Bewusstsein (Seele). Dies zeigt sich im folgenden Dialog zwischen Seele und Körper: „Sag du es ihm/ihr, auf mich hört er/sie ja nicht“, sprach die Seele zum Körper. „Ich werde einfach krank werden, damit er/sie sich Zeit nimmt, auf dich zu hören“, antwortete der Körper. Wie findet man nun Wege, die Bewegungen der eigenen Seele kennen zu lernen, ihrer Stimme zu lauschen und Vertrauen zu schenken? Ohne vorher ernsthaft physisch oder psychisch zu erkranken.


Das Wort „Person“ hat seinen mythologischen Ursprung im altgriechischen „Persona“. So wurde die Maske genannt, die ein griechischer Schauspieler vor dem Gesicht trug, in der seine Rolle besser zum Ausdruck kam und die Zuschauer ihn damit identifizierten. Heutzutage spricht man von sich als Person oder Persönlichkeit und meint damit einen Menschen definiert nach geschlechtlicher, sozialer oder beruflicher, politischer usw. Rolle. Oder spricht von Person im Kontext von Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Man ist als Person die Schnittstelle zur Außenwelt, der beruflichen und privaten Alltagswelt. In gewisser Weise kann man von einem ­äußeren Mantel sprechen, in dem ein Mensch eingehüllt und geschützt wird. Nun neigt man dazu, sich mit diesen verschiedenen Rollen und Funktionen allmählich so zu identifizieren, dass man glaubt, dieser Mantel zu sein und sich selbst als Mensch in seiner Tiefe nicht mehr erkennt oder wiederfindet. So kann es langsam zu einer inneren Leere kommen, die irgendwann schmerzhaft zu spüren ist. Ängste und Depressionen können Ausdruck dieser Leere sein.


Hier mag im Menschen eine Fähigkeit zum Tragen kommen, die man als Intuition benennen kann, das Aufmerksam werden auf eine „innere Stimme“, die dem Menschen aus seiner Problematik und Misere heraushelfen will. Sie kommt nicht aus dem Kopf. Man spricht von der Stimme des Herzens oder Bauchstimme, weil Herz und Bauch mit Gefühlen bzw. mit Intuition assoziiert werden. Möglicherweise auch deswegen, weil sich der Herz- und Bauchraum wie ein Resonanzkörper eignet, die im Menschen erzeugten Schwingungen wahrzunehmen. Intuition ist Ausdruck einer solchen Resonanzwirkung. Der Begriff „Intuition“ kommt vom lat. „intueri“, was so viel bedeutet wie „genau hinsehen, anschauen“. Intuitives Erfassen meint also, durch inneres Schauen, und nicht durch Denken, Kenntnis von etwas zu erlangen. Der seelische Innenraum teilt sich dem Menschen über ein inneres Erfühlen, über ein inneres Bild mit. Die Werkzeuge für ein solches Wahrnehmen sind Achtsamkeit, Geduld und die Bereitschaft zum Innehalten und in die Stille zu gehen und sich dafür immer wieder zu Entscheiden. Mit anderen Worten: Sich Seelenzeiten geben. Zeiten, in denen man deutlicher die eigenen Sehnsüchte, Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen wahrnimmt. Zeiten, in denen Platz geschaffen wird für das Wesentliche im persönlichen Leben. Zeiten, um den eigenen Wahrheiten im Inneren begegnen zu können, Zeiten in denen man Kraft tankt und sich innerlich verbunden fühlt.


In der heutigen Multitasking-Welt hilft die Praxis der Achtsamkeit, gezielt die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Nicht gemeint ist die Aufmerksamkeit nach außen, sondern nach innen. Dadurch kann das sonst nicht Wahrnehmbare im Inneren wahrnehmbar werden. Es spricht für sich, sich in diesen „Seelenzeiten“ durch nichts stören zu lassen. Leise und wohltuende Hintergrundmusik mag unterstützend sein. Es gibt eine vielfältige Auswahl an Hilfsmitteln, wie bspw. Meditationen oder passender Musik als Apps oder zum Download.
Ein weiteres Navigationssystem zur Seele ist die Natur. Landschaften die einen wohltuenden, stressreduzierenden Effekt auf den Menschen aufweisen sind Ge­wässer wie Seen, Teiche, Flüsse, Bäche sowie Meeresstrände und das offene Meer. Auch Landstriche mit Blumen, blühenden Bäumen, Hecken und Sträuchern, ebenso Wälder oder hügelartige Landschaften sind eine Wohltat für die Seele.
Aufenthalte in den Bergen, die besondere Aus- und Weitblicke ermöglichen, eröffnen sich zu wahren Kraftorten für die menschliche Seele.


Dimensionen der Seele
Vertrauen! Vertrauen heißt, sich vorbehaltlos auf jemanden anderen oder etwas anderes zu verlassen. Das Leben lässt sich nur dadurch bewältigen, dass man immer wieder Vertrauen wagt. Das man loslässt, sich fallen lässt, sich anvertraut. Steve Jobs, der Gründer von Apple, rief bei einer Rede vor Absolventen der Stanford Universität diesen zu: „Sie müssen auf etwas vertrauen – auf Ihr Bauchgefühl, Ihr Schicksal, Ihr Leben, Ihr Karma, oder was auch immer.“


Wenn man auf seine Seele hören lernt und den Weg des Herzens geht, braucht man Vertrauen. Vertrauen ermöglicht, mutig zu sein.
Schönheit zu sehen in einer zunehmend hektischeren Welt benötigt immer wieder Momente des Innehaltens, der Verlangsamung, der Stille, damit man am Schönen des Lebens nicht vorbeirauscht. Anstatt ein immer „höher, schneller, weiter“ wäre ein „tiefer, langsamer, näher“ angesagt. Verbundenheit! Der moderne Mensch in seiner technisierten Welt mag die Notwendigkeit von Verbindungen und Verbundenheit nicht mehr auf eine unmittelbar existenzielle Weise erfahren. Man fühlt sich autonomer, lebt weniger in Kontakt zu einer Sippe, zur Natur, zu religiösen Gebräuchen oder zu den Ahnen. Und man lebt oftmals sogar getrennt vom eigenen Selbst, von der Seele, ohne dies zu merken. Wohlstand und Technik vermitteln gerne die Illusion, auf nichts und niemanden angewiesen zu sein oder zu brauchen.


Die konkrete Erfahrung von Verbundenheit ist überlebensnotwendig. Sie hilft dem Menschen achtsamer mit sich und seiner Mitwelt umzugehen. Sie lehrt ihn, auf tieferer Weise Respekt, Achtung, Wertschätzung und Mitgefühl füreinander entgegenzubringen, wie auch zu sich selbst.


Dies gilt für alle Menschen, aber auch alle anderen Lebewesen und der Erde. Eine kleine Geschichte gibt diese Verbundenheit auf ­liebevoller Weise wieder: Der Pandabär fragt seinen Freund kleinen Drachen: „Was ist wichtiger, der Weg oder das Ziel?“ „Die Weggefährten“, antwortete darauf der kleine Drachen.


Liebe! Ein allgemein verbreiteter Irrtum besteht in der Vorstellung, Liebe sei ein Gefühl. Viele missverstehen Liebe als eine Emotion, der man sich hingibt und dabei eine rosarote Brille trägt. Aber Liebe ist kein Gefühl, Liebe ist eine Haltung, eine Einstellung. Sie ist die Einstellung eines „Ja, ich bin mit Dir verbunden“, ein „Ja, ich empfinde eine tiefe Zugehörigkeit zu Dir“. Das können Eltern zu ihren Kindern sein, Freunde, Partner oder Paare. Man kann diese Haltung der Verbundenheit an dem Band der Liebe erkennen. Man kann durch viele Gefühle gehen, doch die innere Gewissheit, sich seelisch tief verbunden zu fühlen, stellt all dies nicht infrage.


Dies gilt auch für die Beziehung zur eigenen Seele. Das Gegenteil von Liebe ist eine innere Haltung von Gleichgültigkeit und Ignoranz. Sie führt zur Vereinzelung des Menschen und zur Entsolidarisierung in einer seelenlosen Welt. Je tiefer man in Verbindung mit seinem Innersten ist, umso fähiger wird man, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen.