Wie der Mensch tickt

Nicht erst seit der Verleihung des Nobelpreises der Medizin 2017 an drei amerikanische Chronobiologen interessieren sich Forscher angrenzender Wissenschaften für die innere Uhr. Vielmehr gilt die Auszeichnung als längst überfällige Anerkennung für die mittlerweile weitgreifenden interdisziplinären Forschungen auf diesem Gebiet. Zugleich ist sie ein starker Impuls für die Intensivierung weiterführender Anwendungsfelder wie etwa die Chronopharmakologie.

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(Foto: © diez-artwork – stock.adobe.com)

„Lerchen“ und „Eulen“: Derartige Typisierungen sind hinlänglich bekannt. Die meisten Menschen kennen diese Typ-Unterscheidung, bei der es darum geht, dass es Menschen gibt, die morgens eine bessere Leistung abliefern können und die anderen eben abends. Auch das Phänomen Jetlag – Auswirkungen auf den Körper durch das Reisen durch mehrere Zeitzonen – ist nicht wenigen aus eigener Erfahrung bekannt. Hinzu kommen moderne Arbeitswelt-Bedingungen wie Schichtarbeit und Arbeiten unter künstlichem Licht, die uns Menschen beziehungsweise unsere Organismen ganz offensichtlich beeinflussen. Allesamt sind dies Themen, die für Forscher aus ganz vielen Bereichen von hohem Interesse sind und deshalb mit ganz unterschiedlichem Ansatz untersucht wurden und immer noch werden. Psychologen, Mediziner, Genetiker, Ökologen, Pharmakologen und Psychiater nehmen die innere Uhr in ihre Forschungsfelder hinein. Sport-, Schlaf- und Sozialmedizin, Flug- und Raumfahrtmedizin und ganz besonders auch die Endokrinologie – die Lehre von den Hormonen und dem Stoffwechsel – setzen auf eine Erweiterung des Wissens rund um diese im menschlichen Organismus innewohnende natürliche Rhythmusgeberin.


Da unsere moderne Gesellschaft mittlerweile in vielen Bereichen der Arbeits- wie auch der Freizeitwelt zu einem Leben gegen die innere Uhr geführt hat und vieles davon nicht einfach umkehrbar ist oder gar ganz entfallen kann, wird auf dem Gebiet der Chronobiologie nach Maßnahmen geforscht, die positiv auf unsere Konstitution wirken und negativ wirkende Lebensumstände teilweise aufwiegen. Aus Ergebnissen und Erkenntnissen der Forschung werden so kurative Ansätze abgeleitet. Beispielsweise wurde schon vor zehn Jahren ein Beleuchtungskonzept entwickelt, das sogenannte HCL – Human Centric Lighting –, das Arbeitsplätze nach dem Vorbild des Tageslichts gestaltet und so den inneren Rhythmus beziehungsweise die Gesundheit des Menschen fördert. Anwendungsgebiete sind Produktionsstätten, Krankenhäuser, Pflege- und Seniorenheime aber auch Schulen, Büros und Fluggesellschaften.


Den Biorhythmus kennen verhilft zur Leistungssteigerung
Das vertiefte Wissen um das Funktionieren dieser inneren Uhr kann umgekehrt aber auch Begehrlichkeiten wecken. Der Einsatz des Mitarbeiters kann nach dem Rhythmus seiner biologischen Uhr optimiert und für den Unternehmer letztlich der Gewinn erhöht werden. Wenngleich der Grundgedanke einer ethischen Basis nicht entbehrt, weil die Arbeitswelt nicht gegen, sondern entlang der Natur des Menschen gestaltet wird, so steht im Zentrum dieser Überlegungen doch nicht der Mensch, sondern seine Leistung. Buchtitel wie: „Chronobiologie im Personalmanagement. Wissen, wie Mitarbeiter ticken“ oder „Ermüdung und Arbeitsfähigkeit. Ursachen der Ermüdung und Strategien zur Optimierung der Vigilanz“ zeigen deutlich die Ambivalenz auf, die aus wissenschaftlichen Erkenntnissen rührt. Auch in der Welt des Sports, die in so einigen Bereichen mittlerweile eine hochkommerzielle Angelegenheit ist und fast nichts mehr mit einem gesundheitlichen oder spielerischen Ansatz zu tun hat, haben auf der Chronobiologie basierende Erkenntnisse längst Einzug gehalten. Wenn nicht mehr allein Talent, Disziplin und Training genügen, sondern die Genetik in Studien einbezogen werden, die zum Ergebnis haben, dass „Eulen“ kaum Olympiasieger werden, ist es da nicht mehr nur eine Frage der Zeit, bis ein Sponsorenvertrag erst nach einem Gentest zustande kommt?


Prävention mit Hilfe von Erkenntnissen aus der Chronobiologie
Doch auch in der Chronobiologie und ihren Anwendungsmöglichkeiten gibt es nicht nur die zwei Seiten einer Medaille. Es gibt auch die goldene Mitte, die in diesem Fall wohl in der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in präventiven Maßnahmen mündet. Wenn man also herausfindet, ob man nun der Frühaufsteher oder eher die Nachteule ist, so kann man dies etwa für seine sportlichen Unternehmungen positiv einsetzen und seinen Gang ins Fitnessstudio oder den Walk in den Wald seinem Typ entsprechend zur passenden Uhrzeit ansetzen. Oder aber man setzt Lernzeiten bewusster in ein Zeitfenster, von dem man weiß, dass hier die Aufnahmefähigkeit im Gehirn und die Konzentrationsfähigkeit besonders stark sind – Ansätze, die übrigens Befürworter der Verschiebung von Schulanfangszeiten ins Feld führen. Oder will man sein Gewicht reduzieren, dann besteht auch die Möglichkeit, dies nach einem Plan mittels der inneren Uhr durchzuführen, anstatt es mit mitunter schwer umsetzbaren Diäten zu versuchen. Im weitesten Sinne sind dies alles Schritte, die eine Anpassung beziehungsweise eine Veränderung der Zeitstrukturen eines Menschen verlangen.

 

Diese Vorgehensweise basiert auf den wissenschaftlichen Forschungen, die das Eingebundensein des Menschen in den circadianen Rhythmus und vor allem auch die zerstörerische Kraft eines langzeitlichen Missachtens desselben erkannten. Viele Krankheiten und Krankheitssymptome haben ihre Ursache unter anderem in einer Lebensführung, die den Biorhythmus sträflichst vernachlässigt. Buchtitel wie „Vom richtigen Umgang mit der Zeit. Die heilende Kraft der Chronobiologie“ des Grazer Forschers Maximilian Moser oder „Eine Frage der Zeit. Wie die Chronobiologie unser Leben beeinflusst“ des Präventivmediziners Jan-Dirk Fauteck zeigen diese Zusammenhänge eindrücklich auf. Beide plädieren nachdrücklich für eine umfassendere Berücksichtigung der Erkenntnisse der Chronobiologie in der Behandlung von Krankheiten. In dieselbe Richtung gehen die Arbeiten des Münchner Schlafforschers Till Roenneberg, der unter anderem die sozialen Ursachen von Schlafmangel untersuchte und ein Plädoyer für Lebensentwürfe formulierte, die auf dem jeweils eigenen Rhythmus basieren.


Neue Wege mit der Chronopharmakologie
Einen anderen Ansatz verfolgt die Chronopharmakologie, die sich mit der Gabe von Präparaten zum richtigen Zeitpunkt beschäftigt. Der therapeutische Nutzen wird erhöht, wenn beispielsweise Asthmakranke ihr Medikament am Abend einnehmen, da Asthmaanfälle bevorzugt in den frühen Morgenstunden auftreten, da der Körper hier vermehrt Entzündungsmoleküle freisetzt. Antihistaminika, Präparate für Heuschnupfengeplagte, sollen abends angewandt werden, da der Körper zu diesem Zeitpunkt das meiste Histamin freisetzt. Doch die Pharmakologen greifen weiter: Mit der Einnahme von Präparaten sollen körpereigene biochemische Abläufe sinnvoll unterstützt und durch den so erzeugten Einklang von Therapie und innerer Uhr die Effektivität grundlegend verbessert werden.

 

Dieses faszinierende Feld der medizinischen Forschung berücksichtigt also die komplexen gengesteuerten Prozesse im Organismus und stimmt die Gabe von Stoffen auf ihre beste Wirkzeit ab. Es bleibt eine spannende Reise, die Entdeckung unseres Körpers und seiner hochkomplexen Wirkmechanismen. Auch nach den jüngsten Ergebnissen aus den Forschungen der Chronobiologie sind noch längst nicht alle Fragen beantwortet. Doch wer sich dem internen Zeitgeber in seinem Körper widmet und dem eingebauten 24-Stunden-Zyklus Aufmerksamkeit schenkt, kann mit diesem Wissen nicht nur mehr von dem verstehen, was in ihm vorgeht, sondern auch immer wieder einen heilenden Schritt für sich selbst unternehmen.
Text: Dr. Gabriela Rothmund 

 

Wissenswertes rund um die Chronobiologie:

Die Väter der Chronobiologie
Der Freiburger Mediziner und Verhaltensphysiologe Jürgen Aschoff (1913–1998), der an der Tübinger Universität lehrende Biologe Erwin Bünning (1906–1990) und der englische Biologe Colin Pittendrigh (1918–1996) gelten als Begründer der Chronobiologie. Sie deckten Mitte des 20. Jahrhunderts die in Organismen existierende zeitliche Organisation auf und zeigten, dass diese unabhängig von äußeren Faktoren agiert.



Die Nobelpreisträger von 2017
Auf der Suche nach dem körpereigenen Rhythmusgeber entdeckten die amerikanischen Mediziner Jeffrey C. Hall (* 1945), Michael Rospash (* 1944) und Michael W. Young (* 1949) zuerst Gene, die die Konzentration von Proteinen (Eiweißmolekülen) in Zellen regulieren. Noch war nicht geklärt, wer oder was die Signale für die wechselnde Konzentration der einzelnen Proteine gibt, die ja als universelle Bau- und Betriebsstoffe in allen Organismen wirken und dafür sorgen, dass der Stoffwechsel funktioniert. In einem zusätzlichen Schritt klärten sie dann als eine weitere Komponente der inneren Uhr das Zusammenspiel dieser Vorgänge mit dem (Tages-)Licht.


Eine Frage der Definition
Chronobiologie (griech. chronos = Zeit und bios-logos = die Lehre vom Leben), also die Lehre vom Leben auf der Basis der Erkenntnisse der inneren Uhr, beschäftigt sich mit allen Organismen, also Pflanze, Tier und Mensch. Sie findet heute schon vielfach Anwendung in der Vieh- und Pflanzenzucht. Für den Menschen werden die Erkenntnisse neben dem umfangreichen Gebiet der Heilung auch im Bereich der Vorbeugung angewandt. Die innere Uhr, auch Biorhythmus genannt, ist eine allen Organismen innewohnende, also endogene Organisation. Noch immer sind nicht alle Komponenten dieses Wirkmechanismus bekannt. Die Abhängigkeit beziehungsweise seine Synchronisation mit Hell-Dunkel-Rhythmen ist jedoch ein zentrales Moment. Der circadiane Rhythmus (lat. circa = um … herum, dies = Tag), 1959 vom amerikanischen Vater der Chronobiologie Franz Halberg (1919–2013) als Begriff in die Forschung eingeführt, bezeichnet die Periodenlänge von circa 24 Stunden und wird als Anpassung der Organismen an den Wechsel von Tag und Nacht beziehungsweise die sich im Tagesrhythmus ändernden Umweltbedingungen verstanden. Umgangssprachlich wird die Gesamtheit der circadianen Rhythmen auch als die innere Uhr bezeichnet.

 

Stundenplan nach der inneren Uhr 
6-8 Uhr: Das System Körper kommt langsam in die Gänge. Temperatur, Herzschlag und Blutdruck steigen an, ebenso erhöht sich der Adrenalinspiegel. Beim Mann kommt es zu einer maximalen Testosteronbildung, während bei der Frau der Östrogenspiegel steigt. Die körperlichen Bedingungen für Sex können zu keiner anderen Tageszeit besser sein! Noch ist der Blutzuckerwert am Boden, daher verlangt der Körper auch nach einem Frühstück.


8-10 Uhr: Körper und Geist fahren hoch und steuern auf ein Leistungsmaximum zu. Die grauen Zellen arbeiten auf Hochtouren – also die beste Zeit zum Nachdenken, zumal das Kurzzeitgedächtnis gerade voll im Einsatz ist. Es ist die Idealzeit für anstrengende Arbeiten. Achtung: Die Körperabwehr ist jetzt schwach, der Schmerzpegel sehr niedrig und die Alkoholverträglichkeit gering! Zwei Gläser Wein am Morgen können dieselbe Wirkung haben wie eine ganze Flasche am Abend.


10-12 Uhr: Die Leistungskurve hat ihren Zenit erreicht. Gute Laune stellt sich ein. Eine prima Zeit, um Probleme zu lösen und Prüfungen zu bestreiten. Doch Vorsicht! Ab 11:30 Uhr beginnen wir wieder leicht zu schwächeln.


12-15 Uhr: Der Geist lässt langsam nach und steuert in ein Tief, dafür nimmt der Verdauungstrakt seine Tätigkeit verstärkt auf und der Körper verlangt nach seinem Mittagessen. Danach gönnt man sich am besten ein kleines Nickerchen. Wer das nicht kann, sollte die Zeit für Routinearbeiten oder Telefonate nutzen – oder aber zum Zahnarzt gehen, denn die Schmerzempfindlichkeit ist an ihrem Tief angelangt.


15-17 Uhr: Los geht’s. Der Körper fängt sich wieder und läuft zu einer zweiten Höchstform auf. Atem- und Pulsfrequenz sind perfekt und unser Langzeitgedächtnis ist maximal aufnahmefähig. Die Zeit, in der man am besten lernen kann.


17-19 Uhr: Noch ein Hoch bahnt sich an, diesmal ist es der Körper. Top-Zeit für Ausdauer-Training und manuelle Arbeiten. Noch sollte man den Alkohol meiden, da die Leber gerade eine Pause einlegt.


19-21 Uhr: Feierabend. Das Denken wird mühsam und die Sehnsucht nach Entspannung und Erholung steigt. Am besten funktionieren die Genusssinne. Geschmacks- und Geruchssinn erleben ihre aktivste Phase und sind sehr empfänglich für ein leckeres Abendessen. Es ist aber auch die Zeit, in der man Musik, Theater und Filme am besten genießen kann.


21-23 Uhr: Die Adrenalinproduktion fährt zurück, dafür schüttet unser Körper Melatonin aus, was uns ermüden lässt. Jetzt nichts mehr essen, da sich der Verdauungstrakt abmeldet. 23 Uhr ist die ideale Zeit, ins Bett zu gehen.


23-1 Uhr: Wenn man nicht schlafen will, kann es zu dieser späten Stunde noch einmal zu einer absoluten Kreativphase kommen.


1-3 Uhr: Bis auf Leber und Haut läuft der gesamte Organismus auf Sparflamme und die Körpertemperatur geht nach unten. Es ist die Zeit der intensiven Schlafphase.


3-6 Uhr: Körper und Geist sind schwach und sehr anfällig. Es ist die kritische Zeit für Lungenkranke und auch die Nierenfunktion ist erheblich eingeschränkt. In dieser Zeit passieren die meisten Unfälle am Arbeitsplatz durch „menschliches Versagen. In den frühen Morgenstunden werden die meisten Todesfälle verzeichnet, gleichzeitig auch die meisten Geburten. Um 6 Uhr beginnt unser Organismus wieder aufzuwachen und durchzustarten.